Michael Schaefer
Segmente_Florian
Segments from the real world. Michael Schaefers Fotoarbeiten
Florian Ebner im Katalog Segmente, Kunstverein Leipzig, 2002:
1.
Der Betrachter braucht einige Momente, um über die räumlichen Verhältnisse im Bild Klarheit zu gewinnen. Abgesehen von einigen Armaturen, die an den silbern-metallischen Vertäfelungen angebracht sind, ist der geschlossene Bildraum leer. So heftet sich der Blick, unverstellt von störenden Objekten, an eine quadratische Glasscheibe, hinter der die reale Bildwelt endet, doch die zugleich die Illusion eines rückwärtigen Raums erzeugt: Anhand der perspektivischen Fortführung der Stange, die die Raumschichten des Bildes zueinander in Beziehung setzt, gibt sich die Scheibe als ein Spiegel zu erkennen und nicht als Fenster. Durch sein Wissen um die Funktionsweise eines Spiegels ergänzt der Betrachter den visuellen Eindruck; die erste unmittelbare und unvermeidliche Wahrnehmung, die eines Blickes in einen anderen Raum, geht zusehends in die Vorstellung einer komplexen Konstruktion über, dessen eigentlich paradoxes Element der blinde Fleck des Spiegels ist.
Michael Schäfers Bild mit dem Titel Aufzug (HGB), ein großformatiger Ink-Jet-Ausdruck einer aus mehreren fotografischen Aufnahmen digital zusammengesetzten Bilddatei, verwandelt den tatsächlichen Gegenstand, die Beförderungskabine eines modernen Personenaufzugs in einen reinen optischen Raum, der des sehenden, oder besser, des registrierenden Subjekts offensichtlich nicht mehr bedarf; ganz so, als wäre die Logik der Fotografie zu Ende geführt worden und das Bild hätte sich, ohne die Hand des Autors und gar ohne Apparatur, von selbst aufgezeichnet. Stärker noch als die Faszination am Gelingen des technischen Coups, der Ausblendung des Fotografen und seines Instruments, fühlt sich der Betrachter durch die offensichtliche Gleichgültigkeit provoziert, mit der das Bild ihn zu ignorieren scheint, obwohl es ihm die (mimetisch unvollständige) Abbildung eines Spiegels vorhält. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes selbstreflexiv. In seiner Hermetik und seiner Weltvergessenheit scheint Aufzug (HGB) ein solitäres Bild unter den Segmenten von Michael Schäfer zu sein; zugleich stellt es hinsichtlich seiner Entstehungsweise und seiner Autonomie, die es sich den Gesetzen der physischen Welt und dem Einverständnis des Betrachters gegenüber herausnimmt, einen Schlüssel für das Verständnis der bildnerischen Strategie des Künstlers dar.
2.
»A mirror is a surface on which a segment of the surrounding world appears, directly it seems, in two dimensions; as such it has often been taken as a good metaphor for painting.« Mit diesen lakonischen Worten beginnt in T.J. Clarks Studie über Edouard Manets berühmtes Gemälde Bar aux Folies-Bergère ein Absatz, der die optisch fehlerhafte Reflexion der jungen Barfrau im großen Spiegel hinter ihr zu interpretieren versucht. Clark versteht diesen Kunstgriff des Malers als Ausdruck für die empfundene Differenz von gesellschaftlichem Schein und sozialem Sein in der Klassengesellschaft des modernen Paris kurz vor 1900. Ohne hier weiter auf die besondere Problematik dieses Bildes eingehen zu können, so ist mit Manets Malerei und dem Titel von Clarks Buch, The Painting of Modern Life, ein künstlerisches Programm genannt, das in den letzten zwanzig Jahren gerade im Bereich der Fotografie (und der theoretischen Diskussion über das Werk von Jeff Wall) einen beträchtlichen Einfluß ausgeübt hat. Hinter dem Maler des modernen Lebens, den Charles Baudelaire einst in der Figur des Flaneurs ausmachte, entdeckte man nun, nachdem die modernistischen Konzepte von Gegenstandslosigkeit und Abstraktion ihre Strahlkraft verloren hatten, den (Künstler-) Fotografen als seinen zeitgemäßen Nachfolger, da dieser noch den Mut zu einer figurativen Bildlichkeit und zu kritischem Realismus besaß. Zuletzt jedoch beherrschte weniger die Programmatik des modernen Lebens als vielmehr der Bezug auf die Malerei schlechthin die Diskussion. Kaum eine große Fotografie oder ein großformatiger Videobeam, welche im Kunstkontext gezeigt wurden, ohne daß man nach den pikturalen Referenzen suchte.
Auch die Segmente Michael Schäfers könnte man unter den beiden Aspekten dieser Perspektive betrachten. Versuchen wir es ansatzweise und stellen zunächst die Frage nach der Inhaltlichkeit seiner Bilder und der darin gezeigten Modernität des Lebens zurück und beschäftigen uns mit der Form. Ihre Entstehung verdanken die meisten Fotoarbeiten Schäfers einem (wenn auch zurückgenommenen) Prozeß der Inszenierung und Choreographie. Der Fotograf spannt, gleich einem Maler, seinen Rahmen auf und füllt die Fläche nach und nach mit der räumlichen Struktur und dem ausgewählten Personal. Die einzelnen Bildfiguren wirken daher auf eine eigentümliche und subtile Weise isoliert, so daß der aufmerksame Betrachter erkennt, wie wenig sie im realen Moment der Aufnahme(n) die spätere Präsenz der benachbarten Körpern im Bild ahnen konnten; allein über die der Bildwirklichkeit immanenten Zeichen stehen sie zueinander in Beziehung (die junge schwarz gekleidete Frau und der hell gewandete Herr in der Cafébar Segafredo kommunizieren gleichsam über das S/W-Werbefotos im Hintergrund). Die eigentliche Komposition geschieht am Rechner: Schäfer setzt aus unterschiedlichen Aufnahmen von ein- und derselben Szenerie fotografische Segmente zu einem einzigen digitalen Bild zusammen, das seinen kompositen Charakter verbirgt. Es entsteht somit nach dem additiven Prinzip einer Montage und nicht aus dem alleinigen subtraktiven Akt, einem einzigen Schnitt durch Raum und Zeit, der als das Kennzeichen des Fotografischen schlechthin gehandelt wird. Die horizontale und bühnenhafte Anlage der beiden jüngsten Arbeiten (Segafredo und Counter-Strike) sowie das große Ausgabeformat und die pigmentierte Materialität der Tintenstrahlausdrucke lassen zudem eher an die Gemälde eines Edward Hopper denken, als an die nahtlose Textur eines fotografischen Abzugs. Diese Qualität der Bilder, die sie in eine strukturelle Nähe zur Malerei rückt, sollte jedoch nicht die Perspektive darauf verstellen, wie weit sich Schäfers Arbeiten in die Tradition der Fotografie stellen lassen und wo sie sich von ihr abgrenzen.
3.
»Is it a mirror, reflecting a portrait of the artist who made it, or a window, through which one might better know the world?« Diese Frage, so John Szarkowski am Ende seines Katalogessays von Mirrors and Windows von 1978, ließe sich einer jeden Fotografie stellen, die aus einer künstlerischen Haltung heraus entstanden ist, denn letztendlich beruhe sie auf einem der beiden folgenden Impulse: self-expression oder exploration. Sicherlich, über diese Begriffe, anhand derer Szarkowski die beiden Grundtendenzen der amerikanischen Fotografie zwischen 1960 und 1978 zu fassen versuchte, sind kurz danach die Stürme der Postmoderne hinweggezogen; der (fotografische) Blick auf die Welt ist seither von der crisis of the real infiziert. Trotzdem möchte ich die Arbeiten von Michael Schäfer, der seine fotografische Ausbildung in Kanada beendete und fünf Jahre dort lebte, im Folgenden anhand von exploration, des zweiten Elements aus Mirrors and Windows betrachten.
Die fotografischen Erkundungen Schäfers, die den postmodernen Zweifel an einer »einfachen Wiedergabe der Realität« in sich aufgenommen haben, sind Entdeckungsreisen in zwei verschiedene Territorien. Zum einen untersuchen sie, was vom großen Erbe einer Fotografie der Straße und des öffentlichen Raums und von deren klassischem Vokabular übriggeblieben ist. Zum anderen führen sie in unsere unmittelbare Nachbarschaft, in die Allgegenwärtigkeit des Konsums und in ihre eigens dafür gebauten Welten.
Schäfers Straßenszenen aus den letzten Jahren präsentieren eine fast gezähmte Sicht des urbanen Raums. Das chaotische Leben der Straße, das noch Garry Winogrands Weitwinkelobjektiv entsprungen ist, hat einer sorgfältig orchestrierten Sicht Platz gemacht. Die dargestellten Personen laufen wie an unsichtbaren Hilfslinien gezogen durch das Bild, und trotz der transparenten Konstruiertheit der Szenerie behalten ihre Bewegungen etwas von dem »Optisch-Unbewußten« der fotografischen Darstellungsweise, der Flüchtigkeit und Alltäglichkeit von Gesten und Haltungen, wie sie nur die Fotografie festhalten kann: hierin »bleibt Michael Schäfer auf die Kontingenz der Realität, den Zufall angewiesen und insofern ... dem fotografischen Dispositiv der Momentaufnahme verpflichtet.« Innerhalb seiner Segmente existiert eine fünfteilige Werkgruppe von Schaufenstern, in der Schäfer seinen Blick auf die stereotyp gestylten Shops von Dienstleistern und Markenproduzenten richtet. Die Sichtweise des Fotografen ist streng frontal und die unterschiedlichen Motive erscheinen im ersten Moment seriell kohärent dargestellt zu sein – beides Kennzeichen eines dokumentarischen Ansatzes. Verstärkt wird der rigide und betont spröde Charakter der Aufnahmen durch ihren besonderen Ausschnitt, der sich konsequent an der plastifizierten Einfassung der großen Schaufenster orientiert. Gerade die besondere Form des bildinternen Rahmens unterstreicht die Idee eines so vorgefundenen und »straight« aufgenommenen Arrangements, obwohl die Bilder ebenfalls in Photoshop bearbeitet und zusammmengesetzt sind. In diesem Sinne entbehren Schäfers Bilder nicht der Ironie. Verloren steht der einsame Mann im Multipolsterland vor einem Meer aus Plüschsofas und starrt in die Weite des Bildes. Dennoch, in ihrer Direktheit und in ihrer »digitalen Aufgeräumtheit« sind Schäfers Fensterblicke schonungslos realistisch, prosaischer noch als die entsprechenden Aufnahmen von Walker Evans und bar jeglicher transzendierender Magie, welche die Surrealisten so sehr in den Schaufensterbildern Eugène Atgets schätzten. Was uns aus den fotografierten Fenstern Michael Schäfers heraus anblickt, ist die Welt als Ware.
4.
Die Geschichte der Fotografie kennt die unterschiedlichsten Erkundungen (explorations). Als ein besonderes Forschungsfeld galt und gilt ihrer dokumentarischen Ausrichtung stets die Darstellung der jeweiligen Alltagswelt. Was macht den spezifischen Ausdruck einer bestimmten Kultur aus, ihrer Kunst, ihrer Architektur, ihre Medien im ganz Allgemeinen? Die Amerikaner bezeichnen dieses »Ureigene« als vernacular. Mit Walker Evans wurde bereits jener Fotograf erwähnt, der wie kein anderer die visuellen Äußerungen der amerikanischen Populärkultur seiner Zeit (Plakate, Ladenfronten, Schaufenster, etc.) in Fotografien übersetzte, in denen für manche Interpreten bereits eine dezidiert künstlerische Reflexion über die ungeheure kulturelle Macht der Produkte und ihrer Zeichen eingesetzt zu haben schien. Die Segmente Michael Schäfers stehen gleichsam am anderen Ende dieser Entwicklung. An die Stelle des lokalen Charakters (vernacular) der kulturellen Produktion ist das globale und universelle Antlitz der kapitalistischen Warenströme getreten.
Seit Mitte der 90er Jahre fotografiert Michael Schäfer in den großen Shopping Malls und den Multiplexeinkaufszentren. Für ihn stellen sie einen Aspekt der Modernität unserer Zeit dar und zugleich bilden sie sein zentrales Forschungsfeld. In den ersten Fotografien aus Kanada beherrschen noch die flanierenden Freaks das Bild. So wähnt man in Surrey (BC) einen fast reportagehaften Blick am Werk, das uns in schrillem Rot und Blau die Dauergäste der Konsumtempel als Figuren einer Geisterbahn zusammenstellt. Doch mehr und mehr konzentriert sich dieser Blick; die alltäglichen Besucher gehen über in das geschäftliche Inventar und die Schaufensterscheiben werden zum Bildschirm, auf dem sich die Fetische unseres Konsums in ihrer Gesichtslosigkeit oder eher in ihrer Gleichgesichtigkeit abbilden. Als bisher letzten bildnerischen Schritt schneidet Schäfer aus den endlosen Ladenzeilen ganze »Konsummodule« heraus, etwa die Cafébar Segafredo am Leipziger Hauptbahnhof (obschon der genaue geographische Ort eigentlich einerlei ist). In unseren Augen mag es diesen Konsummodulen, verglichen mit den Etablissements der Pariser Moderne an Originalität fehlen; doch die Welt ist seitdem etwas gleicher oder eher gleichartiger geworden, und das Versprechen auf ein bißchen Italianitá läßt sich nun auch in Sachsen einlösen. Unter den Segmenten stellt Counter-Strike das formale und inhaltliche Pendant zum Bild der Cafébar dar. Ebenso panoramatisch in seinem Format, präsentiert es uns ein multifunktionales Großraumbüro, in dem mehr als ein Dutzend junger Männer ihrer Freizeit nachgehen und im Kleinen die virtuellen Kriege der Zukunft proben. Der Ortlosigkeit der Szene, irgendwo am Ende eines Einkaufscenters, entspricht die physische Kommunikationslosigkeit der Protagonisten, die in die Manipulation der aufgestellten Rechner, Tastaturen und Joysticks vertieft sind. Abgesehen von den visuellen Qualitäten des Bildes, des blauen Lichts der leidlich abgedunkelten Fenstern und der Bildschirme sowie der rhythmisierten Schärfebereiche, die sich durch das montierte Bild ziehen, besticht Counter-Strike vor allem dadurch, daß die der Darstellung zugrunde liegende Idee, die einer völligen Versunkenheit in ein Medium, das Bild selbst erfaßt zu haben scheint. Wie es unserer Erfahrung mit Schäfers Aufnahme des blinden Spiegel in Aufzug (HGB) entspricht, scheint sich auch dieses Bild vor seinen Betrachtern zu verschließen und zu entziehen, miteingebunden in den Krieg der untereinander vernetzten Rechner.
5.
Doch was sind diese Bilder nun? Darstellungen der Modernität unseres Lebens, deren Signatur nicht mehr das Transitorische, das Flüchtige und das Zufällige ist, wie es noch Baudelaire für seine Zeit formulierte, sondern eher das Uniforme, das Ubiquitäre und das Unwirkliche? Und die Darstellungen selbst: Handelt es sich um digitale Malerei, eine neue Kunst der Montage oder eine häretische Fotografie, um kritischen oder fiktionalen Dokumentarismus?
Vielleicht ist es nicht mehr nötig oder gar zeitgemäß, eine neue Identität und Qualität für diese Form bildnerischen Schaffens, wie es die Segmente Michael Schäfers darstellen, definieren zu müssen; man täuscht sich, darin eine neue mediale Besonderheit entdeckt zu haben, denn seit die Fotografie existiert, gibt es ihre montierte Form. Gesichert erscheint lediglich: »Schäfer mißtraut der Aussagefähigkeit des Fragments, er sieht in der Synthese, in der Konstruktion eine adäquatere Methode, sich mit der Komplexität gesellschaftlicher Wirklichkeit auseinanderzusetzen.« So reagiert er auf eine alte Kritik an einer zu positivistischen Auffassung von Fotografie, die sich stets allzu gewiß des Erkenntniswerts gewesen ist, den sie dem einfachen Schnitt ins Sichtbare zugemessen hat. Die Qualität von Schäfers Arbeit liegt in der Konsequenz, in der sie die traditionelle Sprache der Fotografie in eine autonome Bildlichkeit erweitert, die nicht mehr des Pathos bedarf, eine »Scheibe Leben« zu sein, die der Wirklichkeit abgetrotzt wurde. Diesen Realitätseffekt streifen seine Bilder ab, in dem sie die Szenerien des modernen Lebens fotografisch übergenau nachbauen und zu Allegorien unserer globalisierten Alltäglichkeit werden, ganz ohne den »entscheidenden Augenblick«. Seine Segmente beziehen ihre Autorität nicht mehr aus der Kontingenz sondern aus der Komposition, aus der bewußten Bildbehauptung, hinter der eine selbstbewußte künstlerische Haltung steht. Die Absage an die klassische Form der »straight photography« kommt jedoch keinem Verzicht gleich, sie bedeutet keineswegs, daß der Fotograf sich nicht weiter aus Szarkowskis Fenster lehnen sollte, um auf die Welt zu schauen – ohnehin bliebe die künstlerische Alternative für Schäfer, sein Blick in den Spiegel, wie anfangs beschrieben, ohne Widerschein.
(1) T.J. Clark, The painting of modern life, New York, Alfred A. Knopf, 1985, S. 252
(2) Siehe die Ausstellung Malerei ohne Malerei, Museum der bildenden Künste, Leipzig, Frühjahr 2002
(3) John Szarkowski, Mirrors and Windows: American Photography since 1960, Ausst. Kat. Museum of Modern Art, New York, 1978, S. 25
(4) Siehe hierzu Andy Grundberg, Crisis of the real: writings on photography, 1974-1989, New York, Aperture, 1990
(5) Susanne Holschbach, Text zur Ausstellungseröffnung Straßenszenen, Galerie am Scheunenviertel, Berlin, Juni 2000 (www.bildbank.com/shownode.php?au=34)
(6) ibid.
JavaScript is turned off.
Please enable JavaScript to view this site properly.